1. Walpurgisnacht 01


    Datum: 10.10.2016, Kategorien: Erotische Verbindungen,

    Standort in der Welt finden zu lassen. Erst ein paar Wochen später, als er bereits mit Haribald unterwegs war, fiel ihm ein, wie wenig der alte Freund von den Zielen der Reise hatte wissen wollen. Ein Freund, der ihm im Traum die Hände schüttelte, sich auf einen Besen setzte und davonflog, während die umstehenden Menschen sich bekreuzigten und mit Hufeisen jonglierten, als wären sie Gaukler auf einer Maifeier. Dann träumte Professor Bechstein, wie die Erde in Stettin angefangen hatte zu beben und schreckte aus seinem Schlaf hoch. Die schmale Brille war auf seine Nasenspitze gerutscht, das Barett hing ihm in die Augen. Die Kutsche rumpelte über einen Stein. Vorbei an dichtbelaubten Bäumen huschte das Gefährt, ab und an schlug ein Ast gegen das Verdeck, drang ein Lichtstrahl durch die Kronen und glitzerte auf den Pfützen, die der letzte Aprilschauer hinterlassen hatte. Professor Bechstein rückte die Brille zurück auf seine Nase und rieb sich die Augen. „Haribald, mein Junge, wo sind wir?“ Haribald drehte seinen Kopf. Die Feder auf seinem Hut wippte im Takt der Schritte. „Zwei Stunden nach Treenberg“, keuchte er pathetisch und stolperte fast über einen Stein. Bechstein wusste noch immer nicht, was er von dem Jungen halten sollte. Sie waren erst seit gut zwei Monaten unterwegs, hatten auf dem Weg nach Süden Rostock und Schwerin gestreift, und in der Zeit hatte Bechstein versucht, ihm eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie sehr die Dinge des Lebens miteinander verwoben waren. ...
    Es gab nicht nur Bier und Mädchen. Wer die Welt als Ganzes verstehen wollte, musste sich mit der Naturwissenschaft beschäftigen, mit der Philosophie und Theologie, vor allem aber mit dem Menschen und seiner Natur. Gleichwohl spürte der Gelehrte an manchen Tagen einen Widerwillen in dem Jungen, der sich nur schwerlich überwinden ließ. Wenigstens heute war Haribald folgsam und tat, worum man ihn bat. Ohne Pause lief er jetzt seit fast zwei Stunden, das machte sein letztes Versehen zumindest im Geiste wieder wett. „Dann kannst du jetzt ein wenig langsamer laufen, denn wir liegen gut in der Zeit.“, sagte der Professor und zog seinen ergrauten Schädel wieder ins gekrauste Hemd zurück. Haribald lächelte erleichtert. Der Alte hatte also von der kleinen Pause unter den Bäumen, um das Ende des Hagelschauers abzuwarten und sich genüsslich mit der rechten Hand Befriedigung zu verschaffen, nichts mitbekommen. Für alle Himmelskörper oder Sphären gibt es nicht nur einen Mittelpunkt, pflegte Bechstein zu sagen, wenn Haribald wieder einmal nicht verstand, in welchem Zusammenhang die Schädelknochen des Menschen mit der Kunst des Fechtens standen. Man müsse versuchen, über den Tellerrand hinaus zu blicken, es ginge nicht um den Sinn der Naturerscheinungen, sondern um deren Ursachen. Der kräftige blonde Junge zog dann immer die schmalen Augenbrauen hoch, zuckte mit den breiten Schultern oder entgegnete leise „Hefe und Malz, Gott erhalt's.“. Kopernikus konnte ihm gestohlen bleiben, das aber sagte ...
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