1. Judith


    Datum: 01.11.2016, Kategorien: Erotische Verbindungen,

    Spendenaufruf hatte es gegeben. Am deutlichsten stand ihm jedoch der starre, müde Blick seiner Mutter vor Augen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte. An den ersten Tagen konnte sie nicht weinen. Sie starrte nur vor sich hin und erledigte mechanisch, was zu erledigen war. Erst später kamen die Tränen und die vielen Fragen nach dem Warum. Die dringlichste davon lautete: Warum hatte sein Vater, der so ein umsichtiger Autofahrer war -- erst am Tag zuvor hatte er den langen Heimweg aus Österreich trotz schlechten Wetters mühelos bewältigt -- warum hatte sein Vater auf dem kurzen Weg zu seinem Fitness-Studio derartig leichtsinnig sein Leben riskiert und letztlich verloren? Soeben gab ihm Judith mit tränenerstickter Stimme die Antwort. „Das blinde Verlangen trieb ihn dazu. Dein Vater war in Gedanken bereits bei mir, als ihm das passierte. Deshalb fühle ich mich bis heute schuldig an seinem Tod." Dann heulte sie hemmungslos. Auch Leo war den Tränen nahe, aber er konnte noch nicht weinen. Zuerst musste er Judiths Geschichte zu Ende hören. „Erzähl weiter!" forderte er. Judith schnäuzte sich. „Ich wartete und wartete. Entgegen alle Vereinbarungen rief ich ihn auf seinem Handy an, aber niemand meldete sich. Ich wusste sofort, dass etwas passiert sein musste. Schließlich verlor ich den Kopf und raste nach Frankfurt zurück. Die ganze Nacht lag ich wach. Als mir mein Mann am nächsten Tag mitteilte, dass sein Cousin Martin bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, ...
    wollte ich sterben. Als ich die näheren Umstände des Unfalls erfuhr, war ich fest entschlossen, mich umzubringen." „Warum hast du es nicht getan?" fragte Leo mit harter Stimme. „Ich glaube, ich war einfach zu feig dafür. Aber glaub mir, innerlich war ich tot. Seelisch und körperlich. Ich bekam schwere Migräneanfälle, lag tagelang nur im Bett und heulte vor mich hin. Zur Beerdigung fuhr Wolfgang allein. Ich hätte es ohnehin nicht ertragen, deine Mutter und dich zu sehen. Mein Mann ist nicht allzu sensibel. Er hielt die Migräne für den Grund meiner Depression und kam nicht auf den Gedanken, dass beidem eine tiefer gehende Ursache zugrunde liegen könnte. Das Schlimmste war, dass ich mit ihm nicht über die Sache sprechen konnte. Nicht mit ihm, und auch sonst mit niemandem. Auch dem Therapeuten, den ich einige Male aufsuchte, verschwieg ich die Geschichte. Zu groß war die Angst, dass alles ans Tageslicht kommen könnte. Du bist der erste Mensch, dem ich diese Geschichte erzähle. Und dir muss ich sie erzählen, ob ich will oder nicht... Ich brach mein Studium ab. Ich hatte keine Energie mehr dafür. Wenig später nahm ich eine Vollzeit-Stelle als Buchhalterin an. Es war eine Art Therapie. Die endlosen, langweiligen Zahlenkolonnen waren das Richtige, um allmählich wieder so etwas wie ein inneres Gleichgewicht zu finden. Doch insgesamt dauerte es gute zwei Jahre, bis ich wieder Lebensfreude empfinden konnte. Die Massage-Ausbildung war dann mein echter Neuanfang. Und als dieses Jahr meine ...