1. Gerlinde - Teil 2: Nachhilfe


    Datum: 03.01.2018, Kategorien: Erstes Mal, Reif,

    Das schlug sich auf das Gemüt, das Gewicht und das Aus­sehen, hatte ich irgendwann einmal fest­gestellt, auch wenn es sonst keinen Anlass dafür gab, mich heraus zu machen. Nein – irgendwie hatte ich eine gewisse Auszeit auch gebraucht und eine langsame Gewöhnungsphase, die dann mit einem Mal unmerklich aber für mich abgeschlossen war. Das Leben in Berlin, die Änderung, die Möglichkeiten – all das hat­ten anfangs doch einen gewissen Schock in mir verursacht, der mich verrückterweise genau all das tun ließ, was ich mir gerade nicht vorgestellt hatte. Nämlich: nichts – sondern eher verstecken, in der Wohnung alles so einrichten, dass diese zwar wie mein eigenes Schloss war, aber … ich hatte direkt Angst vor den Leuten draußen. Ubahn, Straßenbahn und dann natürlich Musik, Oper und Kon­zerte – da war ich gerne und fing an aufzutauen und war auch wieder motiviert, daheim auf dem Klavier zu spielen. Meine Nachbarn hat­ten gar nichts dagegen, diese Art von Musik zu hören – und ich konn­te es mir ja auch so einteilen, dass ich fast immer dann spielte und übte, wenn sie in der Arbeit waren, abends eher nicht oder sicherlich niemals bis tief in die Nacht hinein. Und wenn, dann kein üben, son­dern ein Spielen, eine Vorstellung eben – Chopin etwa als Klassiker. So kam auch der Vorschlag, Unterricht zu geben, gar nicht von mir selbst, sondern von den Nachbarn direkt und über Mundpropaganda, was wohl das wirksamste Medium überhaupt ist. Und von fast einem Tag auf den anderen war es nun ...
    so, dass ich bei­nahe ausgelasteter in meinen Leben war, als je zuvor. Eine Mischung aus Musik vor allem und Mathematik und Sprachnach­hilfe. Man sollte ja gar nicht glauben, für wie viele denn Deutsch da immer noch eine wahre Fremdsprache war – und das mussten des­we­gen nicht notwendigerweise die berühmten Ausländer oder zu­ge­zogenen sein … aber das wäre ein anderes Thema. Ich blickte kurz in den Garderobenspiegel – denn es läutete an der Tür und für die nächsten beiden Stunden war Richard angesagt, ein netter junger Mann, der liebend gerne Klavier spielte und dessen Traum auch war, früher oder später bei den Philharmoniker mit­wir­ken zu können. Talent hatte er durchaus, auch Ehrgeiz – er wirkte nur immer wieder so verträumt, dass man aus ihm nicht so recht schlau wurde, wo seine Gedanken denn gerade waren. Aber wenn seine Über­legungen und sein Herz der Musik galten, dann floss dies über, um was es ging: Leidenschaft, Ekstase, Ausdrucksweise der inneren Gefühle in die Tasten überfließen lassen, Leid, Leidenschaft, Tod und Liebe … Ja … Liebe vor allem oder in anderen Worten, das zweite Klavierkonzert von Chopin, f-Moll natürlich, versteht sich fast von selbst. Die darin ausgedrückten Gefühle scheinen gleichsam aus der Seele zu fließen und werden durch eine slawisch angehauchte Intonation eingeführt. Der Satz steht in einer Art freier Liedform – und es scheint der Gesang des Herzens zu sein, den Chopin hier so lyrisch, poetisch und einfühlsam in seinen Klängen beschreibt. ...
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