1. Die Stille


    Datum: 11.10.2016, Kategorien: Verführung,

    hyperaktiven Gegenüber für meine gehässigen Gedanken mit einem freundlichen Lächeln. Mein freundliches Lächeln wurde ebenso freundlich erwidert. Freundlich und ein bisschen überrascht, so als hätte sie mir ein freundliches Lächeln gar nicht zugetraut. Die einwöchige Askese hatte dazu geführt, dass meine Regungen und meine Mimik sich auf ein Minimum reduziert hatten. Bestimmt würde ich am nächsten Tag Muskelkater vom vorübergehenden Lächeln haben. "Shit, ey, shit!" Das Mädchen neben mir war unsanft aus ihren MP3-Träumen erwacht und riss sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ein schriller Pfeifton war zu hören. "Boah, ey, nee." Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf dem pinkfarbenen Kästchen herum und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Ich schwieg. Die Rothaarige natürlich nicht. "Aber, aber, aber..." murmelte sie, während sie ihren Kopf in der Handtasche vergrub und ein Kabel hervorzauberte. "Hier, das müsste eigentlich passen. Und hier", sie klappte die Armlehne hoch, "ist eine Steckdose. Hab ich auch erst vor kurzem entdeckt." Sie trug anscheinend ihren halben Hausrat in der Tasche und ihr ganzes Herz auf der Zunge. Ungefragt, und wohl auch unerhört - denn die junge Dame hatte ihre Ohren wieder zugestöpselt - erklärte sie, dass sie immer wieder mal Handys und Ladekabel in Hotels vergesse und deshalb sicherheitshalber stets Reservehandys und -kabel bei sich hatte. Ich war genervt. Ich war aber auch fasziniert. Ich hatte das Gefühl, in den letzten beiden Stunden mehr über ...
    diese Fremde erfahren zu haben als in den letzten dreißig Jahren über meine Frau. Doch dieses Wissen war nur oberflächlich, so oberflächlich wie ihr Geplapper. Was verbarg sich wohl hinter der Oberfläche? Welche Leere versuchte sie mit Lärm und Geschäftigkeit zu übertönen? Als sie in meine Richtung schaute, legte ich den Zeigefinger an meine Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Sie hielt mitten im Wort inne. Mitten in einem O, um genau zu sein. Ich senkte beschämt meinen Blick, der zufällig auf ihre Beine, die in ausgefallenen Strumpfhosen steckten, fiel. Die Frau schwieg zwar jetzt, aber ihre Strumpfhose erzählte mehr als genug. Von altrosafarbenen Blüten und Blütenträumen. Große Blüten und vermutlich auch große Träume. Auf die Darstellung der Dornen hatte der Strumpfhosenhersteller sicher bewusst verzichtet. Das Auge fühlt ja bekanntlich mit. Offensichtlich aß die Rothaarige gern, wirkte aber auch ganz gut trainiert, denn sie hatte kräftige Beine, die die Strumpfhose prall ausfüllten. Kleine bräunliche Krümel und winzige Einrisse am rechten Knöchel ließen mich spekulieren, dass sie vor der Zugfahrt noch einen Waldspaziergang gemacht hatte. Danach hatte sie irgendwo einen Kaffee getrunken und ein Stück Erdbeertorte gegessen. Jedenfalls sprachen die Spuren am linken Oberschenkel dafür. Die Erdbeeren passten nicht so recht zu dem Lippenstift, den sie sich jetzt auf das stumme "O" malte. Dann grinste sie mich an und Sekunden später wusste ich warum. Während ich sie beobachtete, ...
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