1. Walpurgisnacht 02


    Datum: 04.03.2017, Kategorien: Erotische Verbindungen,

    wie es Tim in Schwerin bei Zigeunern mit Tanzbären gesehen hatte. „Ja, du“, erwiderte der Wolf. Obwohl das Tier keine Lippen hatte und sich die beiden Kiefer nur wenig auseinander bewegten, hörte Tim ganz klar die Worte aus der Schnauze kommen. In den Geschichten seiner Großmutter hatte er von sprechenden Wölfen gehört, das hingegen nie für möglich gehalten. Schließlich gab es auch keine sprechenden Kühe, Gänse oder Hasen. Aber Großmutter hatte immer die Wahrheit gesprochen, es gab sie, sprechende Wölfe, hier im Wald, im Harz. Und sie hatten eine tiefe Stimme. Das Tier umschlich den Spielmann und setzte sich auf den kühlen Waldboden. „Dich schickt der Himmel.“ Der Wolf hob ein Bein über den Kopf und putzte sich. Tim sah sich um. Kein weiterer Wolf zu sehen. Trotzdem war Misstrauen angesagt. Schlief Tim nicht, stand vor ihm noch immer ein Wolf, ein heimtückisches Biest, das Menschen fraß, Schafe riss und Füchse terrorisierte. „Au“, sagte Tim, der sich unauffällig in den Arm kniff, um einen Traum auszuschließen. „Mich?“ „Du spielst so, so herzzerreißend, du musst mir das beibringen.“ „Was?“ „Das schlechte Spielen.“ Tims Stimme nahm über die Angst hinweg eine Spur Empörung an. „Schlechtes Spielen? Hör mal“, erwiderte er. Wahrlich, er war auf alles vorbereitet gewesen, auf eine kurze Flucht, einen aussichtslosen Kampf und den Tod, jedoch nicht auf eine Diskussion über die hohe Kunst des Musizierens mit einem Tier, das nicht einmal Hände hatte. „In Halberstadt haben mir die ...
    Leute sogar Geld gegeben. Die Gitarre ist nämlich neu, musst du wissen, ich habe sie gerade erst bekommen.“ Der Wolf stand auf und hechelte vertraulich. „Komm, bring's mir bei.“ „Im Ernst? Du willst von mir das Spielen lernen?“ Tim war verblüfft, die Angst weg. Ein Wolf, der nicht bloß sprach, sondern zugleich noch lernen wollte, wie man Gitarre spielte. Besser als ein Wolf, der noch nicht gefrühstückt hatte. „Ehrlich, ein so schlechter Musikant wie du ist mir noch nie begegnet“, sagte der Wolf. „Du bist meine Rettung.“ „Die Rettung? Aus welcher Lage?“ Seine Stimme verriet wachsende Empörung. Wenn der Wolf nicht langsam aufhörte, über die Qualität seines Spiels zu lästern, würde er ausprobieren, ob die Klampfe gleichermaßen als Schlaginstrument zu benutzen war. „Ich bin ein verzauberter Königssohn und lebte immer auf einer Burg oder einem Schloss, ganz sicher weiß ich's nimmer. Denn eines Tages wachte ich auf und war ein Wolf, und neben mir stand eine alte Frau, die sagte, auf mir läge ein Fluch, und erst wenn mir ein der untalentierteste Spielmann der Welt das Gitarrespielen beibrächte, würde ich wieder zu einem Menschen werden und mich erinnern, wo ich hingehöre.“ Der Wolf stand auf und umkreiste den Spielmann wieder. Dessen Augen folgten ihm misstrauisch. „Komm. Bring mir das Spielen bei, genau so schlecht.“ Einen Augenblick überlegte Tim und sah in die Schatten hinter den Bäumen. Was würde der Wolf machen, wenn er sich weigerte? „Ich spiel' nicht nur, ich singe auch“, sagte ...
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