1. Das Fenster


    Datum: 11.06.2018, Kategorien: Verführung,

    meines Zimmers zerflossen sodann zu einem weiten Horizont. Fehlte nur der imaginäre Wind für mein Segel. So nahm die Flaute in meinen Gedanken ein jähes Ende, als ich eines morgens die Blendladen öffnete und einen Blumentopf in einem der toten Fenster erblickte. Es war wie der Aufbruch zu einem neuen Ufer. Meine Neugierde war geweckt. Es war wohl jemand eingezogen. Ich legte meine Finger abwartend auf die Tasten und betrachtete gebannt die untoten Fenster, die allmählich zum Leben erweckt wurden. Neben den kleinen Blumentopf hatte sich ein Kerzenständer gesellt. Ohne Kerze. Sie passten irgendwie zusammen. Ein ungleiches Paar. Eine zierliche Hand hatte ihn aus dem schattigen Hintergrund zum Blumentopf hinzu gestellt. Nur die Hand war zu sehen, wenn sie sich auf das schmale Fensterbrett zubewegte und im Sonnenlicht erstrahlte. Sie stellt mir vielleicht eine Szene zusammen, einen Wink für meine leeren Gedanken, kam es mir in den Sinn. Meine Finger waren kurz davor das Ruder zu führen, als ein Stapel Bücher auf dem Fensterbrett auftauchte. Die Seiten waren schon vergilbt. Alte Bücher. Zu lieb gewonnen, um sie wegzugeben. Die tief stehende Nachmittagssonne warf allmählich einen Blick in die Fenster und gaben den Räumen gegenüber ein Gesicht. Eine zierliche Gestalt huschte durch die Zimmer, tauchte mal vor dem einen, dann wieder vor dem anderen Fenster auf und manchmal nur als langer Schatten auf dem Fußboden. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, als sie kurz auf die schmale ...
    Gasse schaute und dann zu mir herüber. Ich saß im weißen Hemd vor der Maschine und klapperte auf ihr. Hübsch, dachte ich und dann war sie auch schon wieder verschwunden. Endlich wieder Leben da drüben. Die letzte Mieterin war vor kurzem verstorben. Neunundneunzig Jahre war sie alt geworden. Die Menschen wurden alt hier. Lag wohl am Klima und am Fisch. * Wenn ich lief, ließ ich meine Gedanken frei. Sie schwebten dann schwerelos aus der Umklammerung meines Bewusstseins ins nirgendwo. Es tat gut nur auf meinen Atem zu hören, die aufgehende Sonne zu begrüßen und den wolkenlosen Himmel zu beobachten, den die Sonnenstrahlen in allerlei Rottöne tauchte. Dann hatte ich den Eindruck, ich sei nur ein unendlich winziger Teil der erwachenden Natur. Ich versuchte alle Gedanken los zu lassen. Aber es gelang mir nicht immer. Entgegen des rhythmischen Mantras meiner Atemstöße, waberten mir allerlei unsinnige Metaphern durch den Kopf. Wenn die Sonnenstrahlen sechs Minuten zur Erde brauchen, dann sehe ich jetzt die Sonne, wie sie vor sechs Minuten gewesen ist. Wenn die Sonnenstrahlen das Meer berühren und wenige Millisekunden benötigen, in meine Augen zu treten, um dann von meinem Gehirn in wenigen Nanosekunden zu Wahrnehmung zu werden, dann sehe ich immer die Vergangenheit. Denn in der Zeit, die es braucht, um in mir wahrgenommen zu werden, hat sich der beleuchtete Gegenstand schon wieder verändert. Ich sehe nur, wie es war, nicht wie es ist. Ich laufe gegen die Vergangenheit an, dachte ich. ...
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